#5 – Die Straßen zurückerobern

IGF-Vorstandsmitglied Beatrice Stude hält sich zur Zeit in Großbritannien auf und bringt Erkenntnisse mit, die sich auch auf die Radverkehrssituation in Österreich und Wien umlegen lassen. Heute der fünfte Teil von »Lessons from Britain«:

Für die meisten von uns ist das Zurückerobern der Straßen für gewöhnlich mit ihrer Befreiung von Autos verbunden, um sie wieder benutzbar und erlebbar für jedermann und -frau zu machen. Ein hehres Ziel, für das es sich zu kämpfen lohnt. Leider ist dies meist ein nicht endenwollender Kampf, der einen leicht vergessen lässt, dass lebenswerte Straßen auch unüberwacht bleiben sollten und ins öffentliche Eigentum gehören. Anderfalls würde selbst die Abwesenheit von Autos, und demzufolge Verschmutzung und Lärm, sie nicht unbedingt zu verweilfreundlichen Orten machen, in denen sich jede und jeder willkommen fühlt und die öffentliches Leben fördern, zu dem im Besonderen auch Redefreiheit und Demonstrationen gehören.

Auch hierzulande in Österreich gibt es mittlerweile Tendenzen den öffentlichen Raum zu überwachen, die Begründungen dafür sind meist ähnlich – Verhinderung von Verbrechen durch Abschreckung. Ein Blick nach Großbritannien zeigt was diese Maßnahmen bringen: NICHTS. Sie kosten viel Geld und haben im schlimmsten Fall den gegenteiligen Effekt. Das Schüren von Angst und Unsicherheit bringt gewissen Gruppierungen Vorteile, aber sicher nicht der Allgemeinheit.

Die Überwachung des öffentlichen Raumes in Großbritannien

‘Every breath you take, every move you make … I‘ll be watching you‘ von Police dürften viele noch kennen. Wenn man jedoch im selben Atemzug George Orwell‘s Buch ,1984‘ erwähnt, erhalten die Liedzeilen eine ganz andere Bedeutung – beides Briten oder aus einer britischen Kolonie. Und dann findet man sich heutzutage in Diskussionen mit Eltern in London wieder, die über Kameras im Kinderzimmer nachdenken: aus Bequemlichkeit – das Recht der Kinder auf Privatsphäre völlig ignorierend. Da taucht schnell die Frage auf, ob hier ein gewisser bedenklicher Gewöhnungseffekt eingetreten sein könnte. Schließlich ist Großbritannien das europäische Land, das bei weitem die meisten Kameras zur Überwachung des öffentlichen Raumes einsetzt.

1987 erster Einsatz

Alles begann im Jahre 1987 als der erste Verbund von Überwachungskameras in King‘s Lynn in West Norfork, rund 160 Kilometer nordnordöstlich von London, zum Einsatz kam. In einem Großbritannien, das zu der Zeit häufiges Ziel von Terroristenattacken, angefangen durch die IRA und gefolgt von verschiedensten Bedrohungen war, verbreiteten sich Überwachungskameras über das Land wie ein Grippewelle. Demzufolge sollten selbst eher als Bagatelldelikte zu klassifizierende Vergehen gar kein Problem mehr darstellen. Da über das Land geschätze 1,85 bis 4,2 Millionen Kameras verteilt sind, je nachdem welche Quelle man zitieren möchte. Somit müsste Großbritannien das sicherste Land in Europa sein, aber dem ist nicht so.

In den letzten zwei Jahrzehnten gab es viele Studien und Evaluierungen zur Sinnhaftigkeit von Überwachungskameras. Die BefürworterInnen brauchten verzweifelt Belege für den von ihnen versprochenen positiven Effekt der Überwachung: die abschreckende Wirkung auf Verbrechen jedweder Art, da allein zwischen 2000 und 2006 mehr als £500 Millionen für die Überwachung ausgegeben worden waren, umgerechnet rd. €625 Millionen. Untersuchungen und Studien von namhaften Universitäten und Organisationen bestätigen diese Versprechen allerdings nicht, sondern zeigen einen gegenteiligen Effekt auf. Nur um ein paar zu nennen:

  • 1999 „Diese Studie liefert keinen Beweis für die abschreckende Wirkung“ und „Überwachungskameras könnten sogar die soziale Kontrolle in Städten und Gemeinschaften untergraben … mit dem Ergebnis einer weiteren sozialen Zerrüttung, welche zu weiterer Entfremdung und sogar mehr Kriminalität führt“ waren die Schlüsse der Universitäten von Wales und Newcastle
  • 2005 fand die Universität von Leicester heraus, das „… in den meisten Fällen haben Überwachungskameras die Kriminalität nicht verringert und haben sich die Leute nicht sicherer gefühlt.
  • 2007 „Die Cambridge Evaluierung steht im Einklang mit früheren Untersuchungen, da sie keine der gewünschten Wirkungen von Überwachungskameras auf Stadtzentren aufzeigen kann.“
  • und im Jahre 2008 „ … eine sich verdichtende Beweislage zeigt das private Sicherheitsdienste und Überwachungskameras weder die Angst vor Kriminalität, noch Kriminalität an sich verringern und vielmehr zu einer Erhöhung von Kriminalität führen könnten“ schließt die Joseph Rowntree Foundation, ähnlich dem Resümeé des All Souls College in Oxford: „Großbritannien läuft Gefahr eine Gesellschaft zu werden in der jede Person gewissermaßen auf Bewährung ist!“

Kameras können nicht eingreifen

Die BefürworterInnen von Überwachungskameras mögen jetzt einwenden, das die Aufnahmen der Überwachungskameras derzeit dazu beitragen RandaliererInnen und PlündererInnen zu verurteilen, die an den Randalen im Sommer vergangenen Jahres im Vereinigten Königreich beteiligt waren. Allerdings wird angenommen das die fehlerhafte Reaktion der Hauptstadtpolizei für die Ausbreitung der Randale verantwortlich ist. Im Grunde hatte die Polizei nicht genügend gut ausgebildete PolizistInnen, um schnell und angemessen reagieren zu können. Wer braucht Überwachungskameras, wenn Verbrechen hätten verhindert werden können, indem man das Geld statt für Kameras für mehr PolizistInnen ausgeben hätte?

Ein „gutes“ Beispiel für die Wirkungsweise des Teufelskreises ist Liverpool. Vor fast zwei Jahrzehnten wurde der Mord an einem zweijährigen Kind mit einer Überwachungskameras erfasst, ging durch das ganze Land und manifestierte Liverpool’s Ruf als einen der gefährlichsten Orte – bis heute. Obwohl Liverpool jetzt ein neues Stadtzentrum hat, im Grunde eine große private Einkaufsmeile, sowie mehr Kameras pro EinwohnerInnen als jede andere Stadt des Landes, konnte der gefährliche Ruf bislang nicht abgelegt werden. Wenn man sich jedoch die Statistiken anschaut, ist die Verbrechensrate von Liverpool wesentlich niedriger als zum Beispiel von Manchester. So könnte man annehmen, dass die PolitikerInnen, InvestorInnen und die Medien ihren Teil dazu beigetragen haben und alle Welt an die hohe Verbrechensrate glauben lassen und damit allen ein eher unsicheres Gefühl geben.

Mehr Ungleichheit, mehr Angst

Ein Stadtzentrum in privater Hand neigt eher dazu nur zahlungskräftige KundInnen willkommen zu heißen. Jede und jeder der anders ist, besonders Gruppen junger Leute und ältere Personen, könnten schnell gewisses Unbehagen verspüren und demnach fern bleiben. Mit dem Ergebnis, dass Leute sich daran gewöhnen nur von Gleichgesinnten und Gleichgestellten umgeben zu sein und leicht durch andere verängstigt würden. Diese Entwicklung wird zu mehr Ungleichheit und Angst führen als alles andere. Es ist ein Geschäftsmodell, dass sich für die EigentümerInnen auszahlt, aber einen negativen Effekt auf die Gesellschaft hat.

Gerade FahrradfahrerInnen werden eigentlich immer noch nicht als geschätzte KundInnen wahrgenommen, da bislang meist dem vermeintlich finanzkräftigerem autofahrenden Klientel der Vorrang eingeräumt wird: Pkw-Stellplätze in Geschäftstraßen, statt Radabstellplätze und Raum für den Radverkehr. Auch in jenen Teilen der Stadt, in denen dem Fußgängerverkehr Vorrang eingeräumt wird, wird oft der Radverkehr mit dem Autoverkehr ausgesperrt. Die Planungen für die Mariahilfer Straße in Wien könnten hier eine wünschenswerte Ausnahme darstellen.

Uns allen gehört der Öffentliche Raum

Zusammenfassend ist zu sagen, dass es nicht belegt ist, das Kameraüberwachung im öffentlichen Raum einen abschreckende Wirkung auf Verbrechen hat, möglicherweise diese sogar noch fördert. Dem öffentlichen Ruf nach mehr Sicherheit und demzufolge Überwachung folgt die Privatisierung von öffentlichem Raum mit dem Versprechen, das sich die Privaten um alles kümmern. Allerdings, gibt es nichts umsonst. Diejenigen, die die Plätze besitzen bestimmen auch weitestgehend deren Regeln und Nutzung, und wenn es sich hierbei um Private handelt sind deren Motive meist Profit und nicht das Wohlergehen der gesamten Gesellschaft. Öffentlicher Raum gehört der Allgemeinheit und sollte nicht aufgrund fragwürdiger Argumente hergegeben werden, auch nicht in Zeiten allgemeiner Budgetknappheit.


IG Fahrrad wurde zu Radlobby Wien.

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