Nachlese Forumtheater: „Hier zu leben ist eine Katastrophe! Unser Projekt ‚Gemeinsam Leben‘ ist gescheitert!“. Das Forumtheaterstück basiert auf Gesprächen mit Bewohner*innen im Nordbahnviertel in Wien, die zum Thema Zusammenleben und Gemeinschaftsräume geführt worden sind. Theatrale Übertreibung inkludiert. Doch die Reaktionen des Publikums zeigen, dass die Alltagsrealität treffend eingefangen wurde. Gemeinschaft will gelernt sein und dazu braucht es Raum.
Die Fronten verhärten sich schnell. Kleine ungelöste Konflikte führen oft dazu, dass große Themen emotional gar nicht mehr angesprochen werden können. So wird beispielsweise die Hausverwaltung nur in Form von Erlässen oft schmerzlich spürbar für die Bewohner*innen, aber eben nicht greifbar und demzufolge gern zum abstrakten Feindbild gemacht. Das Frustlevel steigt. Auf allen Seiten. Was passiert, wenn diese Alltagsszenen nachgespielt werden? Szenen aus dem Haus und Szenen aus dem Büro der Hausverwaltung. Es entsteht ein Perspektivenwechsel der anregt.
Das Forumtheater ist eine Methode, bei der das Publikum eingeladen ist aktiv mitzugestalten. Es macht einen Unterschied über einen Vorfall nur zu diskutieren oder den Vorfall gespielt zu sehen oder gar in eine der Rollen auf der Bühne einzusteigen. Wer aus dem Publikum Ideen für Interventionen ausprobiert, spürt schnell am eigenen Leib, dass kleine Veränderungen bereits große Wirkung haben können und lässt das Publikum daran teilhaben. Ein Forumtheaterstück wird immer zweimal hintereinander aufgeführt. Das erste Mal als konventionelles Theaterstück zum Zuschauen. Das zweite Mal mit der Möglichkeit für Interventionen.
Was behindert harmonisches Zusammenleben? Das war die Frage ans Publikum nach dem ersten Durchlauf des Stücks. Die verschiedenen Antworten fanden allseits Zustimmung: Die persönlichen Egos sind heute sehr ausgeprägt und verhindern, dass sich die Menschen aufeinander einstellen können. Viele Menschen bedeutet auch viele – nicht selten sehr unterschiedliche – Wünsche und Vorstellungen für das Zusammenleben. Mangelnde Bereitschaft und Offenheit für Veränderungen verhindert oftmals dass sich eine Gemeinschaft entwickelt oder gar erst entstehen kann. Was fehlt ist die Kommunikation miteinander und die Kommunikation der Bewohner*innen mit der Hausverwaltung. Bei der Planung der Häuser fehlt oft die Organisation im Betrieb, diese wird nicht mitgedacht: Wie kann der Zutritt und das Bezahlen Externer zum Schwimmbad, zur Sauna und anderen Einrichtungen organisiert werden? Wäre es sinnvoll kinderfreie und Kinder-Zonen in Häusern auszuweisen und die künftigen Bewohner*innen entsprechend ihrer Bedürfnisse zuzuordnen?
Interventionen zum Theaterstück
Leben macht Lärm, zum Erholen braucht es Ruhe. Egal, welche Regeln die Hausverwaltung aufstellt, um Beschwerden zu bedienen, es wird immer Menschen im Haus geben, die die neuen Regeln frustriert. Der Lösungsansatz aus dem Publikum: Übergabe der Macht. Die Hausverwaltung sollte die Selbstorganisation der Bewohner*innen unterstützen. Konkret geht es um die Lärmbeschwerden im Schwimmbad. Die Hausverwaltung, im Stück, wollte die Öffnungszeiten auf 10 bis 17 Uhr einschränken. Dann wäre es wirklich leiser, weil viele Bewohner*innen das Schwimmbad nun gar nicht mehr nutzen könnten. Die Intervention aus dem Publikum schlug Leisebadetage vor, vielleicht zwei pro Woche, und ein Treffen der Hausverwaltung mit den Bewohner*innen. Die Hausverwaltung war auf einmal offen dafür, würde aber aus Zeitmangel den Praktikanten hinschicken!
Großzügige Korridore und Nischen, die als Gemeinschaftsflächen mit Treffpunktcharakter geplant und den Bewohner*innen angepriesen wurden, müssen leer bleiben. Brandschutz! Es geht um die leibliche Sicherheit. Im Alltag werden Schuhe, Kinderwagen, Fahrräder usw. im Flur abgestellt, als auch Regale und Sofas – und für die Begehung der Hausverwaltung wieder weggeräumt. Ein Spiel, das alle mitmachen müssen. Die einen aus Haftungsgründen, die anderen, weil es ihren Alltag erleichtert. Das Publikum wirft ein, dass hier oft nur die emotionale Ebene bedient wird. Die sachliche Ebene fehlt zumeist: Gesetze, die es vielleicht zu ändern oder freier Auszulegen gilt. Neben der körperlichen Unversehrtheit gilt es auch die seelische zu bedienen und hierzu braucht es Gemeinschaft – ein bewährtes Mittel gegen Einsamkeit.
Eine spannende Frage kommt auf: Vielleicht sollte die Hausverwaltung nur für das Technische im Haus zuständig sein und das Soziale anders organisiert werden!? Denn Gemeinschaft entsteht nicht von alleine. Gemeinschaft ist Arbeit. Arbeit die sich lohnt, wie viele finden, denn die meisten Mieter*innen wünschen sich attraktive Gemeinschaftsräume in ihren Häusern.
Demokratie braucht Gemeinschaft und Gemeinschaft braucht Raum
Gemeinschaftsräume sind oft Konfliktfeld zwischen Bürokratie und gemeinschaftlichem Handeln. Sie bieten eine Infrastruktur um Demokratie auf der Mikroebene zu erlernen und zu praktizieren, finden wir. Das Nordbahnhofviertel steht hier beispielhaft für den geförderten Wohnbau Wiens. Der Vergleich mit dem Verschwinden des non-profit Wohnungssystem des ehemals starken Wohlfahrtsstaates in Schweden könnte ein düsterer Blick in die Zukunft sein, der dazu anhalten soll, den hohen sozialen Standard der Häuser in Wien gegen neoliberale Einflüsse zu verteidigen.
In Schweden gibt es seit den 90er Jahren keinen geförderten Wohnbau und damit keine Gemeinschaftsräume mehr. Dieser wurde sowohl von sozialdemokratischen als auch von konservativen Regierungskoalitionen vernachlässigt. Noch in den 70ern galt Wohnen hier als Recht und nicht als Ware, als Teil von „Lebenszonen“, die aus dem Kapitalfluss herausgelöst betrachet wurden. Alle sollten Zugang zu einer leistbaren Mietwohnung erhalten. Heute ist die Wohnungssuche in Schweden eine der größten Herausforderungen – in den größeren Städten als auch auf dem Land. Nur mehr ein Viertel der Wohnungen sind Mietwohnungen. Die gängigste Wohnform ist das „Bostadsrätt“ wobei sich Wohnungssuchende in Kooperativen, in Konkurrenz zum Meistbietenden, einkaufen können.
Wien hat die Tradition des Roten Wiens bis heute überführt in das System des geförderten Wohnbaus. Circa eine halbe Millionen Menschen wohnt in Wien in Gemeindewohnungen. Die Anzahl der geförderten Wohnungen ist flexibel. So gibt es geförderte Eigentumswohnungen und auch geförderte Mietwohnungen mit Kaufoption, die nach Auslaufen des Förderdarlehen nur mehr den gleichen Regeln wie denen des freifinanzierten Wohnungsmarktes unterliegen. Die politische Forcierung dieser Kaufoption, als auch der Verkauf gemeinnütziger Wohnungen im großen Stil – wie die Privatisierung von 60.000 Bundeswohnungen der Buwog 2004 – zeigen in die Richtung wie sie Schweden gegangen ist.
Zum Hintergrund – Theaterstück und Buch ‚Für Gemeinschaften sorgen‘
Im Sommer 2017 folgte die Gruppe Action Archive aus Stockholm einer Einladung von Angelika Fitz und Elke Krasny an ihrem Projekt Care+Repair – öffentlicher Arbeitsraum in der Nordbahnhalle teilzunehmen. Ein Projekt, das im Rahmen der Wien Biennale stattfand und durch das Architekturzentrum Wien (Az W) organisiert wurde. Auf diesem Wege begann die Gruppe Action Archive aus Stockholm eine Zusammenarbeit mit der in Wien lebenden Stadtplanerin und Aktivistin Beatrice Stude. Die Zusammenarbeit knüpfte an das gemeinsame Interesse für Gemeinschaftsräume und Commons an. Die vorliegende Publikation sammelt die im Sommer 2017 zusammengetragenen Notizen der ethnographischen Feldstudien der Gemeinschaftsräume des Neubaugebiets Nordbahnviertel in Wien und diente als Grundlage für das Forumtheaterstück, das sich mit Gemeinschaftsräumen als Konfliktfeld zwischen Bürokratie und gemeinschaftlichen Handelns auseinandersetzt und im Rahmen der Ausstellung Critical Care: Architecture and Urbanism for a Broken Planet (Az W, 2019) zur Aufführung gebracht wurde.
Das Buch ‚Caring for Communities – Für Gemeinschaften sorgen‘ steht hier zum kostenlosen Download für alle zur Verfügung. Darin enthalten ist auch die Nachlese zur 11. Nordbahnhofvorlesung ‚Gemeinschaftsräume – Was frustriert, was funktioniert?‘.
Am 12. Oktober wird es dazu am Baugemeinschaftsforum eine weitere Buchvorstellung geben.
Das Forumtheaterstück ‚Caring for Communities‘ wurde von TdU Wien – Theater der Unterdrückten, unter der Leitung von Magoa Hanke und Veronika Vitovic, auf Basis des Buches konzipiert und von Schauspieler*innen aufgeführt. Wer dieses Forumtheaterstück einmal im eigenen Grätzl aufgeführt haben möchte, meldet sich bitte direkt bei TdU Wien.
Dieser Beitrag ist im Oktober 2019 auf ‚Lebenswerter Nordbahnhof‘ erschienen.