Nachlese Forumtheater: Alle sitzen im Publikum mit mehr als einem Meter Abstand und warten gespannt. Es ist kurz nach fünf an einem Montagabend im September 2020. Gleich geht es los: Dieses Forumtheater kann noch stattfinden, bevor die Bestimmungen für Veranstaltungen wieder strenger werden, weil die Covid-19-Infektionen ansteigen. Wir sind in Wien im West, der Zwischennutzung des ehemaligen Sophienspitals am Gürtel vis-á-vis vom Westbahnhof. Das Theaterstück wurde bereits einmal gezeigt: Jetzt müssen die Darstellenden auf der Bühne zum Plexiglas-Gesichtsschutz greifen, denn jetzt wird noch einmal aufgeführt – mit der Möglichkeit für Interventionen aus dem Publikum.
„Ich habe ein gutes Auge für die Sicherheit aller! So geht das hier nicht: Die ganzen Möbel und Bücherregale – und schon wieder ein Fahrrad am Gang! Das muss alles weg!“ – Der Gang als Treffpunkt und Ort für Austausch geplant und von den Bewohner*innen möbliert, ist unsicher – aus Brandschutzsicht: „Sie haben wohl noch nie die verheerenden Folgen eines Brandes gesehen?!“ Doch die Bewohner*innen geben nicht auf, sie wollen ihre Treffpunkte erhalten und bitten: „Können Sie nicht einfach unterschreiben?“ – „Nein! Meine Verantwortung. Ihre Sicherheit!“ Stille, herrscht nach der Szene mit der Brandschutzbeauftragten: Wo ist da noch Raum zum Intervenieren? Die Stille im Publikum scheint teils in Ohnmacht überzugehen, denn dieses Thema gibt es wohl irgendwie bei jedem Projekt – Lösungen dafür, abseits von Verboten, aber keine.
Das Forumtheaterstück zeigt Alltagsszenen aus dem Zusammenleben. Szenen, die einmal aufgeführt, im zweiten Durchlauf das Publikum einladen Ideen auszuprobieren: Ideen, wie die Konflikte zu lösen oder jedenfalls zu mildern sind. Die Fülle an Konflikten ist groß, obwohl nur vier Parteien und wenige Alltagszenen gezeigt werden. So manch ein Gast im Publikum skaliert das vielleicht schon in den eigenen Berufsalltag: auf hunderte von Bewohner*innen in einer Wohnhausanlage: Mit Theater ist jede*r schnell mittendrin im Geschehen: nicht nur intellektuell, sondern auch gefühlt – mit dem ganzen Körper.
Aus dem vielen Nebeneinander etwas Gemeinsames machen
Eine andere Szene: Die Waschküche am Dach mit großen Fenstern ist zu schön für diese Nutzung – stattdessen überlegen die vier Bewohner*innen eine neue Nutzung: Yoga, Tischtennis, Kinderspiel oder eine Galerie? Jede*r hat ganz eigene Vorstellungen – eine Annäherung scheint ausgeschlossen. Eine Person aus dem Publikum interveniert und ändert die Szene und damit die Dynamik in der Gruppe: Sie schlägt eine Woche Festival vor, in dem alle Ideen Platz haben sollen – organisiert von den Ideengeber*innen selbst.
Was vorher verfahren und aussichtslos erschien, weicht nun skeptischem Interesse. Das Publikum merkt nach der Intervention an: „Die Starre wurde aufgebrochen und zum ersten Mal stand die Möglichkeit des Ausverhandelns im Raum.“ Denn wenn Menschen gleichzeitig in ein Haus einziehen, entsteht zwar eine Schicksalsgemeinschaft – aber für eine gelebte Gemeinschaft braucht es Beziehungen zwischen den Menschen, die erst aufgebaut, gepflegt und auch öfters ausverhandelt werden müssen.
Kommunikationskultur versus Beschwerdekultur
Die Beschwerdekultur der heutigen Zeit, wird durch soziale Medien noch verstärkt und über die Zeit als Kommunikationskultur verinnerlicht – so auch im Theaterstück: „Tatort Stiege 4: Müllraum – Biotonne.“, ein Kommentar dazu: „Auch auf Stiege 2 mangelt es an Intelligenz.“ Solche Posts und weitere Kommentare, eingespielt aus dem „Off“, sind Teil des Stückes und gehen einem Bewohner*innentreffen voran. Eine Publikums-Intervention auf der Bühne wagt den Versuch der Moderation dieses Treffens. Der Versuch trägt nur zögerlich Früchte, da es für das Umschwenken zu einer wertschätzenden Kommunikation Zeit und Übung braucht. Ein Fazit nach der Intervention: zu Beginn braucht es oft eine Begleitung von außen.
Und es zeigt sich: Es braucht gemeinsame positive Erlebnisse, an die immer wieder angedockt werden kann, wenn ein Rückfall in die erlernte Beschwerdekultur den konstruktiven Austausch zu ersticken droht. Das Gegenstück: Zuhören, Ausreden lassen – der Reihe nach im Kreis jede Stimme anhören. Eine Kommunikationskultur des Miteinanders – gelernt, praktiziert und verinnerlicht – bedarf (vieler) persönlicher Treffen.
Aus Ohnmacht wird Rebellion?
Als das Wohnprojekt eröffnete, waren noch alle freudig und voller Erwartungen und Wünsche an das angenehme Leben im neuen Haus – doch zwei Jahre später, sind die Menschen ernüchtert, resigniert oder bereit für Rebellion: „Außer wir brechen in der Nacht ein – wenn niemand uns sieht!“ Einbrechen im eigenen Haus? Die Hausverwaltung hatte als Antwort auf eine Lärmbeschwerde die Öffnungszeiten des Schwimmbades auf 10:00 bis 17:00 Uhr eingeschränkt, externe Gäste ausgeschlossen und das Einhalten dieser neuen Regeln einem Sicherheitsdienst übertragen – auf Kosten der Bewohner*innen. Das Frustlevel ist hoch, die Resignation ebenso: „Eine E-Mail mit konstruktiven Vorschlägen an die Hausverwaltung? Was hat das denn bisher gebracht, als noch mehr Regeln?“
Ein Gast hat eine Idee und interveniert auf der Bühne: Er schlägt vor, statt Geld für den Sicherheitsdienst auszugeben, eine Supervision mit den Bewohner*innen zu veranstalten: Extern angeleitetes gemeinsames Ausverhandeln – statt befehlsartiger Aushänge durch die Hausverwaltung. Zögerlich fruchtet es, doch der Wille etwas Neues zu machen ist gering. Denn die Hausverwaltung im Forumtheaterstück betreut viele Häuser. Zu viele. Die Mitarbeiter*innen sind überarbeitet und gehen im Alltagsgeschäft unter: Da bleibt wenig Zeit sich mit den Ursachen der Beschwerden und individuellen Lösungen in den betreuten Häusern auseinander zu setzen. Das führte zur Idee einer neuen Szene:
Gemeinschaft gestalten braucht Ressourcen
Der Mitarbeiter der Hausverwaltung wendet sich an die Führungsetage und fordert mehr Ressourcen für das Betreuen der Häuser. Erfolglos. Auch die Argumente der schlechten PR durch die hohe Unzufriedenheit der Bewohner*innen in den betreuten Häusern überzeugen nicht: Wenn es Geld kostet, ist die Bereitschaft zum Ändern gering, ist das Ergebnis dieser improvisierten Szene auf der Bühne.
Dagegen wird aus dem Publikum berichtet: „Baugruppen sind am Anfang mehr Arbeit, aber dann nehmen einem die Baugruppen die Arbeit ab – so die Erkenntnis eines Bauträgers!“ Übertragen auf konventionelle Häuser, könnte die Initiierung und Aufbauarbeit von Mieter*innenbeiräten einen ähnlichen Effekt haben: Sie bündeln die Stimmungen im Haus und lösen viele Konflikte bereits intern – ohne die Hausverwaltung.
Was fehlt? Was sind die wirklichen Bedürfnisse?
Zum Abschluss gab es viel Gelächter. Eine weitere neu erdachte Szene wurde improvisiert: Ein gemeinsames Fest im Haus. In der nun ausgelassenen Stimmung auf der Bühne wurden die Figuren gebeten, sich eine andere Figur auszuwählen – die Szene wurde eingefroren und die Darstellenden aufgefordert, aus ihrer Rolle heraus zu antworten: „Was würdest du dieser Figur gern sagen – was du niemals laut aussprechen würdest?“
Nun kamen die inneren, die eigentlichen, Bedürfnisse ans Tageslicht: „Schade, dass Sie nicht beim Tischtennis-Turnier dabei waren, ich verbringe gern Zeit mit Ihnen!“ und eine andere Bewohnerin zum verhassten Dauerbeschwerer in der Anlage: „Ich hätte dich gern als Vaterfigur für meinen Sohn!“ Ein ziemlicher Kontrast zu den alltäglichen Konflikten, denen sich die Bewohner*innen hingeben. Was würde passieren, wenn wir uns mehr mit unseren echten Bedürfnissen auseinandersetzen würden und uns trauten diese auch zu kommunizieren – statt in unseren (Schutz-)Mustern zu verharren?
Was wäre wenn? Jede Situation bietet jeden Tag die Möglichkeit anders zu (re-)agieren – welche Wirkung bereits kleine Interventionen haben, kann spielerisch im Forumtheater erlebt, erprobt und dann leichter in den Alltag übertragen werden.
Ein Fazit: Welchen Schutz wollen und brauchen wir?
Jetzt, vor der alljährlichen Grippewelle und wieder ansteigenden COVID-19-Infektionen wird nach einer Balance zwischen Schutz und Zulassen des gesellschaftlichen Lebens gerungen. Die negativen Folgen des Lockdowns sind zu groß, um einen zweiten herbeizuführen: Menschen vereinsamen, bangen um ihre Existenz und bewegen sich weniger – das gefährdet unsere seelische und körperliche Gesundheit.
Wie wäre es dieses Ringen um Balance in der Pandemie in das künftige Weiterentwickeln der Sicherheit in unseren Häusern zu übertragen: Brandschutz ist ein Aspekt, Schutz durch die Gemeinschaft, die zur Pflege Treffpunkte und Orte zum Austausch braucht, ein anderer. Wie könnte ein neues Ausbalancieren der Gewichtung dieser Aspekte aussehen?
Wie definieren wir – jede*r Einzelne von uns – Sicherheit? Was trägt alles dazu bei, dass wir uns wohl fühlen, geschützt und zuversichtlich in die Zukunft schauen?
Hintergrund zum Forumtheaterstück ‚Für Gemeinschaften sorgen‘
Im Sommer 2017 folgte die Gruppe Action Archive aus Stockholm einer Einladung von Angelika Fitz und Elke Krasny an ihrem Projekt Care+Repair – öffentlicher Arbeitsraum in der Nordbahnhalle teilzunehmen. Ein Projekt, das im Rahmen der Wien Biennale stattfand und durch das Architekturzentrum Wien (Az W) organisiert wurde. Auf diesem Wege begann die Gruppe Action Archive aus Stockholm eine Zusammenarbeit mit der in Wien lebenden Stadtplanerin und Aktivistin Beatrice Stude. Die Zusammenarbeit knüpfte an das gemeinsame Interesse für Gemeinschaftsräume und Commons an. Die vorliegende Publikation sammelt die im Sommer 2017 zusammengetragenen Notizen der ethnographischen Feldstudien der Gemeinschaftsräume des Neubaugebiets Nordbahnviertel in Wien und diente als Grundlage für das Forumtheaterstück, das sich mit Gemeinschaftsräumen als Konfliktfeld zwischen Bürokratie und gemeinschaftlichen Handelns auseinandersetzt und im Rahmen der Ausstellung Critical Care: Architecture and Urbanism for a Broken Planet (Az W, 2019) entwickelt und zur Aufführung gebracht wurde.
Das Buch ‚Caring for Communities – Für Gemeinschaften sorgen‘ steht hier zum kostenlosen Download für alle zur Verfügung. Darin enthalten ist auch die Nachlese zur 11. Nordbahnhofvorlesung ‚Gemeinschaftsräume – Was frustriert, was funktioniert?‘.
Das Forumtheaterstück ‚Caring for Communities – Für Gemeinschaften sorgen‘ wurde im Rahmen des Projektes von Action Archive + Beatrice Stude vom TdU Wien – Theater der Unterdrückten Wien, unter der Leitung von Magoa Hanke und Veronika Vitovic, auf Basis der Studie konzipiert und von Performer*innen als Premiere im September 2019 uraufgeführt. Für die Aufführung der IBA_Wien 2020 Zwischenpräsentation wurden Aspekte der Pandemie ins Theaterstück übertragen.