Wir sind in Gefahr. Tagtäglich. Im Straßenverkehr, zu Haus, überall. Wirklich? Weit gefehlt. Die größte Gefahr für unser Leben geht von uns selbst aus. Unser Lebensstil bestimmt wie gut und wie lange wir leben. Ein wichtiger Aspekt davon ist, wie wir uns im Alltag bewegen. Die Gestaltung des öffentlichen Raumes und des Grätzls arbeitet zumeist gegen unseren Bewegungsdrang – Beobachtungen aus dem Alltag im Nordbahnhofviertel.
Nach Stockholm ist Wiens Straßenverkehr der zweitsicherste Europas, noch vor Kopenhagen und Amsterdam. 19 Personen starben 2016 im Straßenverkehr in Wien. Die Gefahr, sich selbst umzubringen liegt 10-mal höher. Ermordet wurden im selben Jahr 12 Menschen. Jeder Todesfall ist tragisch, jedoch sind diese Todesfälle gerechnet auf die 1,85 Millionen Menschen, die in der Hauptstadt leben, gering. Woran sterben die Menschen in Wien? Zu über 95 Prozent sind Krankheiten die Todesursache. An erster Stelle, mit über 40 Prozent, stehen Herz-Kreislauf-Erkrankungen, gefolgt von Krebserkrankungen. Die Gefahr in Wien an einer Krankheit zu sterben liegt damit 800 Mal höher als der Tod im Straßenverkehr. Für Menschen unter 65 Jahre liegt sie immerhin noch rund 130 Mal höher. Die bislang stetig ansteigende Lebenswartung ist 2015 in Österreich und im Durchschnitt der den EU-28-Staaten laut Eurostat erstmals leicht rückläufig.
Heutzutage ist das Überleben häufig keine Frage der Medizin mehr, sondern des Lebensstils: Bewegung ist da ein wichtiger Faktor. Doch wie bewegen sich die Menschen in Wien? Welche Verkehrsmittel wählen sie? 27 Prozent ihrer Wege legten die Menschen 2016 mit dem Auto zurück, besagt der Modal Split, die Verteilung des Transportaufkommens auf verschiedene Verkehrsmittel in der Verkehrsstatistik. Gleich viele Menschen waren zu Fuß unterwegs. Der größte Anteil, 39 Prozent, nutzte öffentliche Verkehrsmittel, die Wenigsten fuhren Fahrrad. Nur ein gutes Viertel der Wiener Bevölkerung fährt also Auto und dennoch dominiert das Auto unseren öffentlichen Raum: asphaltierte Fahrbahnen gesäumt von parkenden Autos. Verkehr wird von vielen Menschen mit Autoverkehr gleichgesetzt. Kaum verwunderlich. Das Auto hat eine hohe Präsenz in unseren Köpfen. Diese Präsenz wird durch den autogerecht gestalteten öffentlichen Raum aufrechterhalten und immer wieder erneuert.
Barrierefreiheit und Flüssigkeit der Verkehre
Im Nordbahnviertel zerschneidet das Raster des öffentlichen (Straßen-)Raumes mit tieferliegender Fahrbahn die stufenfreien und kurzen Wege der vielen durchwegbaren „Innenhöfe“. Fahrbahnen für Autos die oft gesäumt sind von Parkbuchten für Autos, etwas aufgelockert durch Baumscheiben. Gemeinsam bilden sie eine Barriere und verwehren den direkten Zutritt vom Gehsteig auf die Fahrbahn. Sie zwingen Umwege zu gehen. Selbst die fußläufige Verbindung zur Bushaltestelle bei der Pensionsversicherungs-anstalt (PVA), die nördlich entlang des Pflegewohnhauses verläuft, mündet direkt auf eine Baumscheibe. Wer eine Lücke findet, steigt eine hohe Stufe hinab auf die Fahrbahn, um diese zu überqueren.
Hohe Bordsteinkanten dienen dem Schutz der Menschen zu Fuß, doch dienen sie vor allem der Flüssigkeit des Autoverkehrs. Es ist eine Einladung zum schnelleren Fahren. Selbst die Fußgängerzone in der Ernst-Melchior-Gasse ist dieser „allgemeinen Ordnung des Straßenraumes im Nordbahnviertel“ unterworfen: Gehsteig mit begleitender Grünfläche mit hoher Bordsteinkante, Fahrbahn und wieder Gehsteig mit hoher Bordsteinkante. Abgesenkte Zugänge zur Fahrbahn gibt es zumeist nur an den Kreuzungen, im Abstand von nicht selten über 100 Metern. Dies bedeutet weitere Umwege für all jene, die stufenlos unterwegs sein wollen oder müssen: wie Menschen mit Kinderwagen, Einkaufstrolley, Rollstuhl oder Fahrrad. Die abgesenkten Bordsteine der Zufahrten zu Auto-Tiefgaragen oder zu Müllräumen verbessern diese Taktung ein wenig. Dabei kennt die Straßenverkehrsordnung 1960 (StVO) durchaus Festlegungen, die der Flüssigkeit der anderen Straßenverkehre dienen, derer ohne Autos: Wohnstraßen und Begegnungszonen, Paragraf 76b und 76c, dienen insbesondere der Flüssigkeit des Fußgängerverkehrs. In erster ist Schrittgeschwindigkeit, in zweiter Tempo 20 vorgeschrieben. Radfahren ist in beiden erlaubt, als auch das Zu- und Abfahren mit Autos. Darüber hinaus gibt es die Fahrradstraße in der StVO, Paragraf 67, die der Flüssigkeit des Fahrradverkehrs dient und Tempo 30 vorschreibt. Auch hier ist das Zu- und Abfahren mit Autos erlaubt. Fahrräder haben aber stets Vorrang.
Im neu gebauten Nordbahnviertel sind keine Wohnstraßen, Begegnungszonen oder Fahrradstraßen zu finden, einzig Fußgängerzonen. Dabei sind große Teile des Viertels Tempo-30-Zonen, auch die Vorgartenstraße. In Begegnungszonen und Wohnstraßen dürfen Menschen zu Fuß die gesamte Fahrbahn benützen beziehungsweise auf ihr Spielen, abseits dieser besonders Festlegungen für den Straßenraum dürfen Menschen, die zu Fuß unterwegs sind Fahrbahnen nur zum Queren Betreten.
Die Verkehrsführung sieht an sich vor, dass Durchgangsverkehr für Autos unterbunden und damit der Autoverkehr im Grätzl reduziert wird. Trotzdem gibt es zwei Ampeln, beide in der Vorgartenstraße. Allerdings warten die Menschen mit oder ohne Fahrzeug an der Ecke Haussteinstraße oftmals ganz einsam auf ihr Grün.
Diese Ampel war für die dort geplante Buslinie vorgesehen. Diese verläuft heute anders. Es heißt, dass Einige die Bushaltestelle vor ihrem Haus nicht wollten, während Andere sie gern direkt vor der Haustür behalten wollten. Es wäre eine Option diese Ampel auszuschalten, bis der Bedarf für eine ampelgeregelte Kreuzung gegeben ist. Denn jene Kreuzung könnte mit Vorfahrtsregel und allseits umlaufenden Fußgängerüberwegen von allen schneller passiert werden. Die zweite Ampel Ecke Walcherstraße hat zumeist ein Verkehrsaufkommen, dass die Ampelregelung rechtfertigt, hier führen auch zwei Buslinien über die Kreuzung.
Eine Insel mitten in der Stadt
Das Nordbahnviertel ist im Südosten durch die hohe Barrierewirkung der Lassallestraße und im Westen durch die Bahntrasse der Schnellbahn von den angrenzenden Vierteln abgeschottet und erhält dadurch einen Inselcharakter.
Seit über sechs Jahren ist über die Länge von eineinhalb Kilometern kein offizielles Durchkommen unter dieser Bahntrasse zu den Nahversorgungsangeboten und Lokalen im Allierten- und Afrikanerviertel als auch weiter zum Donaukanal. Die Wegstrecken sind doppelt bis vierfach so lang wie die Luftlinie. Auf der anderen Seite zur Donau hat sich etwas getan. Seit Mai 2015 hat das Nordbahnviertel mit dem Judith-Deutsch-Steg eine Direktanbindung für Menschen zu Fuß und mit Fahrrad an das rechte Donauufer als Naherholungsgebiet.
Menschen sind Gewohnheitstiere. Natürlich schließt dies mit ein, wie wir uns tagtäglich bewegen. Doch verändert sich unsere Lebenssituation, wenn wir in eine neue Wohnung ziehen oder in einer neuen Arbeitstätte beginnen. Dies sind Zeitfenster, in denen wir leichter Umlernen könnten: zu Fuß gehen, mit dem Fahrrad fahren oder in die Öffis statt ins Auto zu steigen. Monate und Jahre später tun wir uns wieder schwerer. Zeitfenster für das Umlernen von nachhaltigem Mobilitätsverhalten werden von der Stadtentwicklung noch zu wenig unterstützt: Kurze Wege frühzeitig errichten und während der weiteren Bebauung freihalten, als auch öffentlichen Verkehr wie Straßenbahn- und Buslinien frühzeitig in Betrieb nehmen.
Die Entwicklung und Bebauung des Geländes des ehemaligen Nordbahnhofes wurde ausgehend von der Lassallestraße und dem Praterstern – von Süden her entwickelt. So ist es wenig verwunderlich, dass es bislang im Norden noch keine offizielle Anbindung an die Innstraße gibt. Die Innstraße ist auch die Bezirksgrenze, der Wechsel der Zuständigkeiten.
Dieser könnte mitverantwortlich dafür sein, dass die geplante Straßenbahnlinie O nicht in den nördlich angrenzenden 20. Bezirk weitergeführt werden soll. Denn eine Straßenbahnführung braucht Raum. Straßenraum, der jetzt Fahrbahnen und Parkplätze für Autos bietet. Dabei dürfte mehr Präsenz von Straßenbahnen im öffentlichen Raum die Autopräsenz in unseren Köpfen etwas reduzieren. Die Straßenbahnlinie O führt 2020 vom Praterstern zum Bildungscampus – dem dann größten Schulkomplex der Stadt – und über eine Schleife wieder retour. Der bereits errichtete Bildungscampus Gertrude-Fröhlich-Sandner ist derzeit ebenfalls nur über eine Schleife der Buslinie 82A an den Praterstern angebunden.
Der Inselcharakter wird so mit den öffentlichen Verkehrsmitteln weiter zementiert, statt ihn aufzulösen. Und damit bleibt auch den Menschen des Nordbahnviertels die Straßenbahnanbindung in den Norden und an die U6 verwehrt, die Buslinien 11A und 11B, die das derzeit leisten, sind trotz enger Taktung bereits jetzt oft überfüllt. Und das alles, obwohl 2015 bereits eine Anbindung der Straßenbahnlinie bis zum Friedrich-Engels-Platz präsentiert wurde. Das wäre nachhaltig, da mit dieser Führung Umsteigemöglichkeiten zur U6, zur Schnellbahn und zu den Straßenbahnlinien 2, 31 und 33 gegeben wären. Die Schulkinder hätten mehr Auswahl für den Weg zur Schule, die Menschen im Nordbahnviertel wären dadurch sehr gut angebunden und das Öffi-Netz wäre für alle verdichtet.
Dieser Beitrag ist im Februar 2018 auf Lebenswerter Nordbahnhof und auf Geht-doch! erschienen.