Gendergerechtigkeit: Velo-City, die weltweit führende Konferenz über das Radfahren, fand im September 2021 in Lissabon statt. Das Motto lautete »Cycling Diversity«. Ein paar Eindrücke darüber, wie inklusiv es sich anfühlte, dort zu sein, und Gedanken dazu, wie es einladender sein könnte.
Endlich! Es war eine Freude, sich wieder persönlich zu treffen. Es war inspirierend, von den verschiedenen Projekten auf der ganzen Welt zu hören, die die Bedingungen für das Radfahren verbessern oder fördern. Aber, es schien mir so, als wenn etwa die Hälfte der Bevölkerung einfach ausgeklammert wird, wenn es darum geht, wer Radfahren als nachhaltiges Verkehrsmittel fördern und dazu beitragen kann, unsere Welt für künftige Generationen zu retten: Frauen und Menschen, die sich als nicht binär definieren – denn es sind oft die Details, auf die es ankommt, um Vielfalt zu begrüßen.
Vielfalt im Radverkehr braucht diverse Gastgeber:innen
„Oh, endlich eine Konferenz ohne Hostessen!“,
hatten sich eine Teilnehmerin und ihre Kollegin erhofft. Nun ja. Junge, schlanke Frauen in bunten Kleidern, passend zum Branding der diesjährigen Konferenz, begrüßten die Teilnehmer:innen und wurden bald zum willkommenen Fotomotiv. Welche Botschaft transportieren diese Bilder von der weltweit führenden Konferenz zum Radverkehr in die Welt? Frauen, die nach ihrer körperlichen Erscheinung ausgewählt wurden und deren einzige Aufgabe es ist, nett auszusehen und in die Kameras zu lächeln, sagen aus: Frauen sind eine schöne Dekoration – insbesondere als ein bunter Rahmen für Teilnehmer.
Wenn die Geschlechteridentitäten ausgewogen zwischen Hosts und Hostessen wäre – den Gastgeber:innen – dann wäre das nur eine Frage des Geschmacks. Und wenn diese Gastgeber:innen auch die verschiedenen Ethnien der in Lissabon lebenden Menschen abdecken würden, würde dies die Botschaft der Vielfalt – das Motto der Konferenz – noch stärker in den Fokus rücken.
Frauen sind erfolgreich in der Geschäftswelt
Frauen arbeiten in Unternehmen oder führen eigene, überall auf der Welt. Aber das diesjährige Logo der Velo-City Konferenz erzählt eine andere Geschichte: Eine Frau fährt mit Lebensmitteln auf einem holländischen Fahrrad. Eine andere Frau radelt mit ihrem Kind am Rad, das Blumen streut – ihre Fahrt scheint eine Freizeitaktivität zu sein. Wieder mit einem Hollandrad. An Hollandrädern ist nichts auszusetzen.
Der Mann auf dem Konferenzlogo führt eine vierköpfige Gruppe an, die alle mit Fahrrädern unterwegs sind. So schnell, dass er Unterlagen aus der Businesstasche verliert, die um seine Schultern hängt. Der Mann, = der Erfolgreiche – so interpretieren auch die Männer das Logo, mit denen ich auf der Konferenz gesprochen habe. Diese Bildsprache passt nicht zum Motto »Cycle Diversity«, sie reproduziert und manifestiert traditionelle stereotype Rollenbilder – heutzutage, im 21. Jahrhundert, wo alle Menschen gleichwertig sein sollten.
Die verschiedenen Typen von Rad fahrenden Menschen auf dem Logo kennzeichnen mit einer der vier Farben jeweils eine Bühne: Die Hauptbühne ist blau und zeigt den flotten Geschäftsmann. In der Session »Gender-inclusive Cities« stellte der Moderator zu Beginn fest: „Städte werden von Männern für Männer gestaltet: im Wesentlichen fahren Männer zur Arbeit, fahren zu ihren Geschäften. Transport ist für Männer essentiell, für Frauen ist es eine Art Freizeitbeschäftigung. …“ Der flotte Geschäftsmann auf dem Rennrad untermauert diese einleitenden Worte. Visuelles wirkt sich auf unser Gehirn genauso aus wie Sprache.
Wow! Diesmal pitchen drei reizende Männer!
„Wow! Diesmal haben wir drei reizende Männer, die auf der Bühne pitchen!” – Haben Sie schon einmal gehört, dass Männer so auf der Bühne vorgestellt werden? Nein? Ich auch nicht. Es waren drei Frauen, die auf diese Weise vorgestellt wurden. Die drei Frauen, die sich mit ihren Projekten bereits gegen ihre Konkurrent:innen durchgesetzt hatten. Drei Frauen, die von der Jury für das Finale ausgewählt worden waren, um ihr Produkt oder ihre Dienstleistung vor dem Publikum auf der Velo-City zu präsentieren.
Dies war das neue Format der Fahrradindustrie auf der Velo-City: Das siegreiche Produkt oder die siegreiche Dienstleistung soll von der Stadt Lissabon umgesetzt werden. Das Publikum applaudierte und wählte die Gewinnerin. Doch die einleitenden Worte hingen immer noch in der Luft: Sie implizieren, dass Frauen in der Fahrradbranche keine Selbstverständlichkeit sind und dass sie nur Präsentierenden sind, aber nicht die Unternehmerinnen dahinter.
„Jetzt stellen drei leidenschaftliche Unternehmerinnen, die es ins Finale geschafft haben, ihre Produkte und Dienstleistungen vor!“
das wäre eine angemessene Einleitung gewesen. Fragen Sie sich einfach bevor Sie jemanden vorstellen: Würde ich diese Person auch so vorstellen, wenn sie ein anderes Geschlecht hätte? – Wenn die Antwort nein lautet, denken Sie noch einmal darüber nach.
Nur mein Eindruck?
Am letzten Tag sprach ich auf der »Nicht noch eine Gender Session« über diese Irritationen, die ich während der Konferenz hatte. Ich hatte nicht geplant, dorthin zu gehen, aber ich traf die Organisatorinnen der Session in der Kaffeepause: Wir plauderten und sie luden mich dazu ein. Nach der Session kamen einige Frauen zu mir und bedankten sich dafür, dass ich die Dinge angesprochen hatte. Eine der Unternehmerinnen aus dem Finale bestätigte meinen Unmut – sie fühlte sich irritiert, so vorgestellt zu werden.
Was können wir dagegen tun? Nachdem ich meine drei Beispiele dafür, dass diese Velo-City Konferenz nicht geschlechtersensibel und inklusiv war, aufgelistet und kurz erläutert hatte, schlug ich vor, die nächste Velo-city Konferenz von einem Beirat begleiten zu lassen.
Die Quintessenz der »Nicht noch eine Gender Session« war, dass sich das System ändern muss. Ja. Aber es liegt auch an den Details, ob sich Teilnehmer:innen willkommen, geschätzt und als ein Teil der Gemeinschaft fühlen – oder nicht.
Wir müssen aufhören, über die Hälfte der Bevölkerung zu sprechen, als ob Frauen eine Ausnahmeerscheinung in der Fahrradbranche wären – im negativen Sinne des Wortes. Frauen müssen eingeladen werden und als gleichwertig anerkannt werden.
Alles scheint aus der gleichen Quelle zu kommen: voreingenommene alte binäre Rollenbilder, die nicht mehr mit der aktuellen Lebensrealität übereinstimmen. Sie verschwinden nicht über Nacht, sondern müssen jedes Mal, wenn sie auftauchen, aufgezeigt, reflektiert und angegangen werden.
Es ist das, was ich schätzte, was mir wichtig ist, und wofür ich mir die Zeit nehme, es kritisch zu reflektieren, um es besser zu machen: Offener und vielfältiger. Wenn wir Vielfalt wollen, brauchen wir vielfältig zusammengesetzte Vorstände, Gremien, Teams in der Planung und Organisation. Dies war meine dritte Velo-City Konferenz als Rednerin. Ich freue mich darauf, auch in Zukunft einen Beitrag zu leisten.
Dieser Beitrag ist Anfang März 2022 im Community Blog auf der »Freitag – Die Wochenzeitung« erschienen.